Der Jungbrunnen am Hochstein
Unterhalb
des Hochsteines nach Norden zu am Arnsdorfer Weg lag früher
zwischen zahlreichen Haselnusssträuchern und einer hohen
Buche ein Brünnlein, welches die Königshainer Bewohner
jener Zeit deshalb den Haselborn nannten. Keiner wusste aber,
dass in dem kleinen, klaren Gewässer eine geheimnisvolle
Kraft wirkte, denn wer in der Johannisnacht (24.Juni) dort von
dem Wasser trank und sich vom Brünnlein wusch, der wurde
wieder jung und schön und blieb selbst vor künftiger
Krankheit bewahrt.
Just an
diesem Tag ging die alte Frau eines Thiemendorfer Häuslers
noch am Nachmittag in den Wald, um Beeren für die karge Mahlzeit
am anderen Tag zu suchen. Aber so sehr sie auch das Gebüsch
durchstreifte, ihr Körbchen war nur halbvoll geworden. Erst
am Hang des Hochsteines fand sie Beeren verschiedenster Art. Bei
ihrer Sucherei war sie nun zufällig bis zum Haselborn gelangt.
Im Schatten der hohen Buche die dort stand, wollte die besagte
Frau etwas ausruhen und machte es sich deshalb am Brünnlein
recht bequem. Kaum hatte die Häuslerin ihren Körper
ausgestreckt, war sie wegen der starken Müdigkeit auch schon
fest eingeschlafen. Wie verdutzt war aber die alte Frau, als sie
aufwachte und bemerkte, dass der Vollmond durch die Buchenzweige
schimmerte. Sie kannte jedoch in diesem Wald jeden Weg und Steg,
so war ihr deswegen nicht ängstlich zumute. Trotzdem wollte
die Häuslerin natürlich eilends nach Hause, damit sich
ihr Mann wegen des langen Ausbleibens nicht zu sehr ängstigte.
Da sie aber auch Durst verspürte, schöpfte die Frau
mit der hohlen Hand Wasser aus dem Brünnlein, trank von seinem
klaren wasser, was ihr dieses Mal so wunderbar schmeckte und prickelnd
durch den Körper rieselte, wusch sich wegen der lauen Juninacht
zur Erfrischung Gesicht und Hände und zum Schluss auch noch
rasch die Beine.
Dann eilte die Frau heimwärts.
Sie wunderte sich doch etwas, dass ihr heute der Weg so leicht
wurde, während sie zu anderen Zeiten auf dieser Strecke oft
Pausen einlegen musste. Und es dauerte gar nicht lange, da war
die Häuslerin zu Hause angelangt, wo ihr Mann wegen des langen
Wegbleibens seines lieben Weibes schon in grosser Sorge schwebte.
Gerade wollte er sich auf den Weg machen, um sie zu suchen.
Als nun die Tür aufging,
sah er im flackernden Licht der kleinen Talglampe eine junge schöne
Frau stehen, die sonderbarerweise aber die Kleidung seines abwesenden
Weibes trug. Der Häusler glaubte zu träumen. Andererseits
wunderte sich auch die Häuslerfrau über das erstaunte
Gesicht ihres Mannes und wie fremd er sie ansah. Sie ging deshalb
zu ihm an den Tisch, gab ihm einen herzhaften Kuss und erzählte,
wie es gekommen sei, dass sie solange weggeblieben war. Der Mann
ging danach zu Fenster, holte eine Spiegelscherbe hervor und hielt
sie seiner Frau vor das Gesicht. Da bemerkte sie ihr verändertes
Aussehen und konnte sich nun auch das sonderbare Verhalten des
Mannes erklären. Und beide vermuteten richtig, dass die wunderbare
Verjüngung nur dem Wasser des Haselbornes und der Johannisnacht
zuzuschreiben sei. Die Häuslerfrau brauchte ihren Mann nicht
lange zu überreden, mit ihr noch in der gleichen Nacht zum
wohltätigen Brünnlein zu laufen, um sich dort auch jugendliches
Aussehen und Kraft zu holen. Gesagt, getan. Der alte Häusler
kam mit tatkräftiger Unterstützung seiner jetzt jungen
Frau noch rechtzeitig vor Mitternacht zum Haselborn, trank von
seinem klaren, wohlschmeckenden wasser und wusch sich in dem Brünnlein.
Danach war aus dem alten Häusler ebenfalls ein junger, hübscher
Mann geworden, und beide halfen seitdem nach besten Kräften
betagten und hilfsbedürftigen Leuten in Thiemendorf bei notwendiger
Arbeit im Haus und in der Wirtschaft.
Nun lebte nicht weit von
den Häuslersleuten entfernt ein gar seltsames Ehepaar. Der
Mann war alt und hässlich und als arger Geizkragen verschrien,
seine Frau, bedeutend jünger, von stattlichem Wuchs, und
sehr eitel, galt bisher als schönstes Weib im Dorf. Sie hatte
wohl ihren betagten Mann hauptsächlich des Reichtums wegen
geheiratet. Nun war aber die ehemals alte Häuslerin plötzlich
schöner und jünger als ihre Nachbarin geworden. Darüber
war diese so neidisch und ärgerlich, dass sie im Haus und
Bett deswegen keine Ruhe fand. Ausserdem plagte die Neugierde
des Geizkragens Weib. Deshalb befragte sie einige Wochen später
die früher betagte Häuslersfrau nach dem Rezept ihrer
so vorteilhaften Verjüngung, denn sie wollte wieder als Schönste
im Dorf gelten.
Ohne Argwohn und aus gutem
Herzen erzählte die jugendfrische Häuslerin, wie sie
zu ihrem neuen Aussehen gekommen war. Die Nachbarin konnte es
danach kaum erwarten, bis anderen Jahres wieder der Johannistag
kam. Als es dunkelte, zwang sie ihren alten Mann, auch zum Haselborn
mitzukommen, denn allein fürchtete sie sich in dem dunklen
Wald. Ihr Mann hatte aber anfangs wenig Lust, sein Weib zeterte
so lange, bis er der Ruhe wegen nachgab. Ausserdem überlegte
er sich zum Schluss auch noch, dass eine Verjüngungskur,
die praktisch nichts kostet, ihm letztlich doch von Nutzen sein
konnte.
So machten sich beide auf
den Weg und gelangten endlich zum Haselborn. Und der Mond schien
auch wieder wie im vergangenen Jahr. Vorsorglich hatte die eitle
Nachbarsfrau einen Spiegel mitgenommen, um sich gleich nach dem
Waschen von ihrer neuen Schönheit überzeugen zu können.
Zuerst trank sie also von dem Wasser, das der Frau aber gar nicht
schmeckte, und deshalb schüttete sie den Rest aus dem Becher
weg. Dann wusch sie sich das Gesicht und überlegte dabei,
dass es vielleicht günstiger wäre, wenn sie das Wasser
des Brünnleins auf den ganzen Körper brachte. Flugs
entkleidete sich die Nachbarin und stieg in den klaren Born, der
auf einmal trübes Wasser hatte, welches die Frau vor Aufregung
gar nicht bemerkte. Schnell benetzte sie überall den Körper,
wobei das eitle Weib eine seltsame Müdigkeit und Kälte
verspürte. Je mehr sie aber ihren Körper mit dem Brunnenwasser
rieb, um so runzliger wurde die Haut, und auf der Nase wuchsen
einige grosse Warzen. Als die Nachbarin nach dem Bad im Schein
der Laterne ihr Gesicht betrachtete, wurde sie vor Schreck bald
ohnmächtig. Aus der vorher stattlichen Frau war nicht nur
ein altes Weib geworden, sondern ihr Körper war jetzt hässlich
in Gestalt und Aussehen, denn die Frau hatte ja mit unlauteren
Absichten den Haselborn aufgesucht, und da besaß sein Wasser
in der Johannisnacht die gegenteilige Wirkung. Als der Geizkragen
die verheerenden Auswirkungen des nächtliche Bades bei seiner
Frau erkannte, verzichtete er auf die weitere Bekanntschaft mit
dem Haselborn, denn er wollte nicht noch älter und hässlicher
werden, als er ohnehin schon war.
Wie fluchte nun das stark
gealterte Weib auf das Brünnlein und verwünschte es
für alle Zeiten. Eine kurze Weile darauf verstarb sie aus
Gram und Ärger über ihr hässliches Aussehen. Der
Mann überlebte seine eitle Frau auch nur einen Tag. Man fand
ihn tot am Tisch, auf dem eine Menge Geld lag. Er muss wohl in
seiner letzten Stunde noch die Taler und Gulden aus der Truhe
gezählt haben. Der Haselborn hat aber seit jenem Tag seine
Wunderkraft verloren, doch sein Wasser wird noch heute von vielen
Leuten getrunken, denn die Hochsteinbaude ist schon seit Jahren
durch eine elektrische Pumpstation mit ihm direkt verbunden.